Wer in der Mitte unserer Reise noch hinzukommen möchte, kann hier die letzten Abschnitte nachlesen oder direkt hier einsteigen:
Ich füge in jeder Woche einen Textabschnitt aus der deutschsprachigen Erstübersetzung (Link zum Projekt Gutenberg) in die eMail ein, sodass alle interessierten Mitreisenden den Text für die jeweilige Woche direkt in ihrem Posteingang haben. Wer eine andere Ausgabe (oder Sprache) liest, kann über diesen kursiv gesetzten Abschnitt hinwegscrollen, alle anderen beginnen ihren Etappenabschnitt hier:
Einundzwanzigstes Capitel.
Wassermangel.
Am folgenden Tage brachen wir in aller Frühe auf. Eile war nöthig. Wir waren fünf Tagereisen von dem Kreuzweg entfernt.
Ueber die Leiden unseres Rückwegs will ich kurz sein. Mein Oheim ertrug sie mit dem Zorne eines Mannes, der einer Uebermacht weichen muß; Hans mit der Ergebung seiner friedlichen Natur; ich muß ich gestehen, mit Klagen und in Verzweiflung: gegen solches Mißgeschick konnte ich nicht den Muth finden.
Wie bereits erwähnt, ging uns das Wasser bereits am Ende des ersten Tages gänzlich aus. Wir waren zum Trunk auf den Wachholderbranntwein angewiesen, aber der brannte höllisch die Kehle, und ich konnte ihn nicht einmal ansehen. Die Temperatur war mir zum Ersticken, meine Kräfte waren gelähmt, ich war mitunter nahe daran regungslos hinzufallen. Man machte dann Halt; mein Oheim und der Isländer stärkten mich wieder, so gut sie vermochten. Aber ich bemerkte bereits, daß der Erstere gegen die äußerste Ermüdung und die Qualen des Durstes eine peinliche Wirkung übte.
Endlich, Dienstag, 8. Juli, gelangten wir, auf den Knieen, auf den Händen uns fortschleppend, halbtodt an dem Vereinigungspunkt der beiden Galerien an. Hier blieb ich wie eine träge Masse auf dem Lavaboden ausgestreckt liegen. Es war zehn Uhr vormittags.
Hans und mein Oheim versuchten mir einige Brocken Zwieback beizubringen. Lange Seufzer entfuhren meinen aufgeschwollenen Lippen. Ich fiel in tiefen Schlummer.
Nach einer Weile kam mein Oheim heran und nahm mich in seine Arme.
»Armer Junge!« murmelte er mit dem Ton wahren Mitleidens.
Diese Worte rührten mich, da ich bei dem harten Professor Zärtlichkeiten nicht gewöhnt war. Ich ergriff seine zitternden Hände mit den meinigen. Er ließ es geschehen und blickte mich an. Seine Augen waren feucht.
Darauf nahm er seine Flasche, die ihm an der Seite hing. Zu meinem Erstaunen hielt er sie an meine Lippen:
»Trink«, sprach er.
Konnte ich meinen Ohren trauen? War mein Oheim nicht bei Sinnen? Ich sah ihn starr an. Ich mocht' es nicht begreifen.
»Trink«, wiederholte er.
Und er nahm seine Flasche und leerte sie ganz aus in meinen Mund.
O! unendliche Erquickung! Ein Schluck Wasser benetzte meinen glühenden Mund; ein einziger, der aber genügte, das entfliehende Leben mir wieder zu geben.
Ich dankte meinem Oheim mit gefalteten Händen.
»Ja, sagte er, der letzte Tropfen! der letzte! verstehst Du wohl? Der letzte! Ich hatte ihn sorgfältig in meiner Flasche aufbewahrt. Zwanzigmal, hundertmal mußte ich meinem erschrecklichen Verlangen widerstehen! Aber mein Axel, ich hob es für Dich auf.
– Lieber Oheim! stammelte ich, und Thränen quollen aus meinen Augen.
– Ja, armer Junge, ich dachte mir, bei Deiner Ankunft an diesem Kreuzweg würdest Du halb todt hinsinken, und habe meinen letzten Tropfen aufgehoben, Dich wieder zu beleben.
– Dank! Dank!« rief ich aus.
So wenig auch mein Durst gestillt war, einige Kraft hatte ich doch wieder gefunden. Meine bereits zusammen geschrumpften Kehlmuskeln erweiterten sich wieder, die Entzündung meiner Lippen war beschwichtigt. Ich vermochte zu reden.
»Sehen wir, sagte ich, jetzt haben wir keine andere Wahl; wir haben kein Wasser, müssen also denselben Weg zurück.«
Während ich sprach, mied mein Oheim meinen Blick; er senkte den Kopf, seine Augen wichen den meinigen aus.
»Wir müssen rückwärts, rief ich aus, und wieder den Weg nach dem Snäfields einschlagen. Wenn uns Gott nur die Kraft verleiht, wieder bis zur Höhe des Kraters zu gelangen!
– Zurückkehren! rief mein Oheim, als antworte er sich selbst, und nicht mir.
– Ja, zurück, und ohne einen Augenblick zu verlieren.«
Es entstand eine ziemlich lange Pause.
»Also, Axel, fuhr der Professor mit seltsamem Ton fort, diese Tropfen Wasser haben Dir Muth und Thatkraft nicht wieder belebt?
– Den Muth!
– Ich sehe Dich so muthlos, wie zuvor, und auch Worte der Verzweiflung!«
Was für ein Mann, mit dem ich zu thun hatte, und was für Projecte hegte sein verwegener Geist immer noch!
»Wie? Sie wollen nicht? ...
– Verzichten auf die Unternehmung, im Augenblick, wo Alles anzeigt, daß sie gelingen kann! Niemals!
– So müssen wir uns entschließen, das Leben hinzugeben?
– Nein, Axel, nein! Geh' nur. Deinen Tod will ich nicht. Hans mag Dich begleiten. Lasse mich allein!
– Sie verlassen!
– Lasse mich, sag' ich Dir! Ich hab' die Reise unternommen, und werde sie bis zu Ende führen, oder ich kehre nicht zurück. Geh' nur! Axel, geh' nur!«
Mein Oheim sprach mit größter Aufregung. Seine Stimme, die eine Weile weich geworden, ward wieder hart, drohend. Er rang mit düsterer Energie gegen das Unmögliche! Ich wollte ihn nicht in der Tiefe dieses Abgrunds verlassen, und dagegen drängte mich der Selbsterhaltungstrieb, ihn zu fliehen.
Hans begriff, was zwischen uns vorging, aber er zeigte doch wenig Antheil an der Frage, wobei sein eigenes Dasein im Spiel war; er war bereit, nach dem Winke seines Herrn weiter zu gehen oder zu bleiben.
Wir beide hätten wohl den hartnäckigen Professor zur Einsicht bringen, zur Rückkehr nöthigen können. Ich trat zu ihm, legte meine Hand in die seinige; er rührte sich nicht. Ich zeigte ihm den Weg nach dem Krater; er blieb unbeweglich. In meinem Angesicht waren alle meine Leiden zu lesen. Der Isländer schüttelte sanft den Kopf und wies ruhig auf meinen Oheim und sprach »Master.«
– »Der Herr, rief ich aus! Unsinnig! Nein, er ist nicht Deines Lebens Herr! wir müssen fliehen! ihn mit fortreißen! Hörst Du? verstehst Du mich?«
Ich faßte Hans beim Arm, rang mit ihm. Mein Oheim legte sich in's Mittel.
»Ruhig, Axel, sprach er. Bei diesem unerschütterlichen Diener wirst Du nichts ausrichten. So höre, was ich Dir vorzulegen habe.«
Ich kreuzte die Arme und sah meinem Oheim in's Angesicht.
»Der Mangel an Wasser ist das einzige Hinderniß der Ausführung meiner Projecte. In dieser östlichen Galerie, die aus Lava, Schiefer, Kohlen besteht, haben wir nicht einen Tropfen gefunden. Möglich aber ist, daß wir in dem westlichen Tunnel glücklicher sind.«
Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
»Höre mich bis zu Ende an, fuhr der Professor mit gehobener Stimme fort. Während Du regungslos da lagst, hab' ich diesen Gang untersucht. Er führt direct in's Innere, und in wenig Stunden mitten in den Kern des Granit. Da müssen wir reichlich Quellen finden. Die Felsart bringt es mit sich, und der Instinct geht einig mit der Logik zu Gunsten meiner Ueberzeugung. Dies also ist mein Vorschlag. Columbus hat von seiner Schiffsmannschaft drei Tage begehrt, um die neue Welt zu entdecken. Ich begehre von Dir nur noch einen Tag. Stoßen wir nicht binnen dieser Zeit auf das mangelnde Wasser, so schwöre ich Dir, daß wir nach der Oberfläche zurückkehren werden.«
Trotz meiner Gereiztheit rührten mich diese Worte, und die Gewalt, welche mein Oheim sich anthat, eine solche Sprache zu führen.
»Nun denn! rief ich, ich füge mich Ihrem Wunsch, und Gott möge Ihre übermenschliche Energie lohnen! Es sind nur wenige Stunden. Also vorwärts!«
“Ueber die Leiden unseres Rückwegs will ich kurz sein.” – Axel kündigt Kürze an, was sich wohl auch in diesem Abschnitt widerspiegelt. Das Kapitel wirkt auf mich etwas kürzer als die bisherigen, aber ich habe nicht nachgeprüft, ob dieser Eindruck stimmt.
Nachdem ich schon in der letzten Woche mein Unbehagen über Schilderungen von Wassermangel geäußert habe, hat mich die Überschrift des 21. Kapitels direkt nicht besonders erfreut. Ich muss aber ehrlich gestehen, dass ich die Schilderungen zeimlich komisch fand. Besonders den letzten Schluck Wasser, den der Professor zur Wiederbelebung seines dramatischen Neffens aufgespart hatte. Aber natürlich war diese Aktion nicht von Mitleid motiviert, sondenr sollte Axel motivieren weiteres Risiko auf sich zu nehmen: “…diese Tropfen Wasser haben Dir Muth und Thatkraft nicht wieder belebt?”
Es ist natürlich viel verlangt, dem Professor in den möglichen Tod zu folgen und selbstverständlich zieht er – wie ein narzisstischer Chef – alle Register: Drohung, Aufregung, weiche Stimme, Kommunikationsverweigerung. Und wie reagiert der anwesende Isländer Hans? Wieder haben wir eine ärgerliche Schilderung der naiven isländischen Nebenfigur: “Hans begriff, was zwischen uns vorging, aber er zeigte doch wenig Antheil an der Frage, wobei sein eigenes Dasein im Spiel war; er war bereit, nach dem Winke seines Herrn weiter zu gehen oder zu bleiben.”
Angesichts der isländischen Situation im 19. Jahrhundert – bis 1848 immer noch unter absolutistischer dänischer Herrschaft, am Anfang des langen Unabhängigkeitskampfes – muss man die Schilderungen von Verne durchaus im typischen Kontext seiner Zeit lesen: Die Isländer sind Eingeborene, die sich von den klügeren Herren vom Kontinent bestimmen lassen sollten: ”Der Isländer schüttelte sanft den Kopf und wies ruhig auf meinen Oheim und sprach »Master.«”
Am Ende steht ein Deal, binnen weniger Stunden muss das Wasser gefunden sein, ansonsten geht es zurück an die Oberfläche. Hans äußert sich nicht weiter, nimmt also seinen möglichen Tod ohne Protest in Kauf. Natürlich geht es hier auch darum, den Isländer als maximal stoisch zu schildern, aber ich habe schon den Eindruck, dass die Stelle deutlich darüber hinausweist und eine gewisse Obrigkeitshörigkeit der Isländer behauptet, die sicherlich auch in historischen Machtverhältnissen und einem verzerrten Blick des Kontinents auf die Peripherie begründet ist.
Ich erinnere aus meiner Kindheitslektüre des Romans, dass ich diese Stellen vollkommen überlesen habe. Damals hat logischerweise die Situation Islands im 19. Jahrhundert keine große Rolle für mich gespielt. Heute lese ich die Abschnitte anders. Im Kontext dieser Stelle ist es vielleicht wichtig sich die Situation der Isländer während der Entstehungszeit der Reise in Erinnerung zu rufen:
Zehn Jahre bevor Jules Vernes Roman erschien, also im Jahr 1854, hatten es die Isländer übrigens erst geschafft den vollständigen Freihandel durchzusetzen und so endlich einen Aufschwung zu erleben und eine langsam in Schwung kommende Modernisierung. Die Isländer versuchten erfolglos Schadensersatz für 200 Jahre Monopolhandel Dänemarks zu erlangen. Federführend war in diesen Konflikten Jón Sigurðsson, an dessen Geburtstag – dem 17. Juni – Islands Nationalfeiertag liegt.
[Die Beerdigung von Jón Sigurðsson 1879]
Dieser Newsletter ist eine Herzensangelegenheit und wird deswegen für die gesamte Dauer des gemeinsamen Reisens selbstverständlich umsonst bleiben, damit wirklich alle Interessierten dabei sein können. Hier kann man mir jedoch eine Mitgliedschaft in einer literarischen Gesellschaft spendieren.
Ich finde unsere unterschiedlichen Blicke auf Hans so interessant: Für mich ist er der Sympathieträger, weil er nichts spricht. Problematisch scheint mir die Beziehung zwischen Hans & dem Professor auch, mich fasziniert aber, dass Verne im Laufe der Geschichte immer öfter das wöchentliche Entlohnungsritual erwähnt (womit auch meine Frage, was Lidenbrock da unten mit dem ganzen Geld will: unter anderem Hans bezahlen). Das ist eine der sehr wenigen Gelegenheiten, wo Verne die andere materialistische Basis der Welt aufscheinen läßt, in der sich die drei bewegen. Viel offensiver um Geld geht’s zB. in Reise um die Welt in 80 Tagen. Aber vielleicht spielt Geld da eine so große Rolle, weil die Hauptfiguren fast alle Engländer sind & generell darüber nachgedacht wird, wie imperiale Verkehrswege & eben Geld (britisches Pfund, das überall akzeptiert wird) das Reisen ohne Friktion versprechen — was dann aber eben auch nicht stimmt.
Ich habe denselben Eindruck wie Berit Glanz und einige hier, dass mir viele Passagen aus meiner Kindheitslektüre überhaupt nicht erinnetlich sind, und ich denke mittlerweile, dass ich damals eine stark gekürzte Fassung gelesen haben muss. Es war die Fischer-Taschenbuchausgabe. Ich werde mal nachschauen, wenn ich in Berlin bin, ob das zutrifft. Kommt mir in der Erinnerung so vor als sei das Buch auch ziemlich dünn gewesen.
Hier offenbart der Professor übrigens doch auch wieder seine dämonische Seite. Und meiner Erinnerung nach gibt es unter den Entdeckern bei Jules Verne da keinen einzigen, der eine Ausnahme machen würde.