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Avatar von Ulrich K Rößler

Dieses Kapitel enthält wieder einen Reichtum an heterogenen Elementen

Und ja, die Figuren bleiben unzulängliches Klischee. Die Figur des Hans ist so funktionierender Dienerautomat an der Handlung - ohne irgendetwas Eigenes. Aber eigentlich ist der Professor genauso aus ein paar Klischees zusammengeklebt - und Axel ist der typische junge Held/Mann. Ohne Charakter zu sein, darf er als Projektionsraum erleben und berichten. Die Beschreibung als Trio ohne Eigenschaften, mit Held, verrücktem Wissenschaftler und Narr/Diener passt ganz gut.

Von den Figuren ist nicht viel zu erwarten, aber es gibt wieder diese naturwissenschaftlichen Hintergründe mit Referenzen zu Beobachtungen anderswo, was die Temperaturentwickliung beim Abstieg angeht (das frz. Original verschreibt hier die Ortsnamen als 'Yakoust en Sibérie' und 'Kitz-Bahl dans le Tyrol, & celles de Wuttemberg en Bohême', was die dt. Übersetzung glättend durch Namen realer Orte wiedergibt). Es gibt wieder Verweis auf Theorien und Berechnungen und ein einfache Mahlzeit im Biwak, während gleichzeitig, die Umgebung nun schon völlig anomal und auch beängstigend wirken kann.

Mitten im Text und dem Spiel mit dem Verlust des natürlichen Lichts und seiner Ersetzung durch die künstliche Beleuchtung, gibt es dann plötzlich so einen Verneschen Abschnitt, für den mir keine rechte Formel einfällt. Sehr bildlich aber auch dynamisch, kein _snapshot_ als Erinnerungsbild, sondern so ein sehr rascher kurzer _clip_ aus einem Film, der als Traumfilmsequenz abläuft.

Eigentlich ist das hier der erste in diesem Roman.

Ich meine diesen Abschnitt im Original :

>>La lave, à la dernière éruption de 1229, s'était

frayé un passage à travers ce tunnel. Llle tapis-

sait l'intérieur d'un enduit épais & brillant; la

lumière éleεtrique s'y réfléchissait en centuplant

Soi, intensité.

Toute la difficulté de la route consistait à ne pas

glisser trop rapidement sur une pente inclinée a

tluarante-cinq degrés environ; heureusement, cer-

taines érosions, quelques boursouflures, tenaient

lieu de marches, & nous n'avions qu'à descendre en

laissant filer nos bagages retenus par une longue

corde.

Mais ce qui se faisait marche sous nos pieds de-

Venait stalactites sur les autres parois; la lave, po-

reuse en de certains endroits, présentait de petites

ampoulesarrondies des cristaux de quartz opaque,

Ornés de limpides gouttes de verre & suspendus à

la voùte comme des lustres, semblaient s'allumer à

notre passage. On eût dit que les génies du gouffre

illuminaient leur palais pour recevoir les hôtes de

la terre.

C'est magnifique! m'écriai-je involontairement.

Quel spectacle, mon oncle Admirez-vous ces

unances de la lave qui vont du rouge brun au jaune

taux qui nous apparaissent comme des globes

lumineux?

<<

Bisher kamen solche dynamischen Beschreibungen nur als Tableaus zu

den noch gewöhnlichen Landschaften vor. Hier ist es aber anders,

weil Verne etwas beschreibt, das so kaum einer oder keiner

seiner Zeitgenossen gesehen haben kann. Die Entwicklung

künstlicher Lichtquellen im 19.Jahrhundert mit Gaslicht und

später elektrisches Licht war tatsächlich schon selbst eine grosse

wunderbare Umwälzung, aber Verne überhöht hier die

Leistungsfähigkeit der Rühmkorffschen Lampen

und erzeugt mit den Lichteffekten eine Epiphanie wie

auf einer Theaterbühne ein illuminiertes Märchenbild.

Gleichzeitig konnte niemand die erloschenen Schlote eines Vulkans

zu der Zeit wirklich hinabsteigen und etwas über die Gesteinsformationen

im Inneren wissen - das heisst im Gegensatz zu den

Landschaften ist das hier reine leuchtende Phantasmagorie.

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Avatar von Ulrich K Rößler

Das natürliche Licht wird in diesem Kapitel durch das künstliche

der Rühmkorffschen Apparate ersetzt, aber die Reisenden müssen

sich auch um Wasser und sogar um die Luft Sorgen machen:

>>

Wir kommen langsam abwärts, und unsere Lungen gewöhnen sich,

eine dichtere Atmosphäre einzuathmen.

<<

Diese dickere Atmosphäre hat eine Entsprechung in einem anderen Roman,

nämlich Alexandre Dumas' 'Isaac Laquedem', den Verne kannte.

Der unsterbliche Titelheld, _Isaac Laquedem_ ist ein frz. Name für den Ewigen Juden,

unternimmt mit Appolonius von Tyana von den phlegräischen Feldern aus

eine ähnliche Fahrt in die Unterwelt, nachdem er am Avernischen See

die Cumäische Sibylle befragt hat.

An der Stelle heisst es:

'Puis tous deux continuèrent de mar-

cher; mais plus, ils avançaient, plus l'air

devenait épais et lourd, plus la chaleur

devenait intense.'

['Dann setzen die beiden ihren Fussmarsch fort; aber

je weiter sie vordrangen, um so dicker und drückender

wurde die LUft und um so stärker wurde die Hitze']

[https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5543409b/f285.item

Title : Isaac Laquedem. T. 5, p.281f

Author : Dumas, Alexandre (1802-1870).

Publisher : (Paris)

Publication date : 1853

Set notice : http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb303729218 ]

Allerdings ist es für diese beiden Reisenden nicht so leicht -

dort am Avernischen See [https://de.wikipedia.org/wiki/Lago_d%E2%80%99Averno]

scheint Humphry Davys Theorie nicht zu stimmen und es

wird auf der Höllenfahrt doch heiss. Appolonius muss deshalb

zurückbleiben, aber der unsterbliche Isaac Laquedem kann natürlich

weiter bis zu den Parzen gehen.

Dass Jules Verne dieses Vorbild benutzte unterliegt keinem Zweifel.

Die deutsche Übersetzung spart nach dem >> .. Nur vorwärts! vorwärts!«<<

des Onkels zwei Sätze mit lateinischem Zitat aus, wohl weil es ein

Gemeinplatz ist : '-Se méfier des citations en latin, elles

cachent toujours quelque chose de leste'.

Jedenfalls ist der frz. Originaltext länger und enthält einen Verweis

auf Vergils Aeneis, worauf auch Dumas' Laquedem anspielt:

>>Il aurait dit plus justement « glissions, » car nous'

nous laissions aller sans fatigue sur des pentes

inclinées. C'était le « facilis descensus Averni,

de Virgile.<<

['Man hätte besser gesagt "wir glitten", denn wir liessen uns

ohne Anstrengung die geneigten Abhänge hinunter. Das war das

'leicht ist es am Avernus' des Vergil.']

An der Stelle in der Aeneis spricht die Cumäische Sibylle:

'Und es begann und sprach die Seherin: »Sprosse der Götter,

Troer, Anchises'Sohn, leicht geht's hinab zum Avernus,

Tag und Nach gähnt das Tor des finsteren Herrschers.

Aber gewendeten Schritts ins Reich der Lüfte zu kehren,

Ist ein gefährliches Werk. ...«'

(6.Buch, 125ff, Übersetzung R.A.Schröder)

Wenigstens eine andere Unsterbliche macht sich

Sorgen um den späteren Aufstieg der Reisenden -

und wie es am Avernus aussieht, kann man auf einem Bild von Turner sich

hier ansehen: https://collections.britishart.yale.edu/catalog/tms:5010

Im _Isaac Laquedem_ (p.261) heisst es entsprechend:

'Cette entrée de la voie mystérieuse

rappelait d'abord le facilis descensus

Avenu de Virgile ; la première pente

était douce, et, quoique l'on sentit qu'elle

s'enfonçait vigoureusement dans la terre,

n'avait rien de trop effrayant.'

[https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5543409b/f266.image#

'Diese Eingang zu dem geheimnisvollen Pfad erinnerte

zunächst an das _facilis descensus Averni_ des Vergil:

der erste Abstieg war sanft und, obwohl man wahrnahm wie er

gewaltig in das Erdinnere vordrang,

hatte er nichts furchterregendes.']

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Avatar von Ulrich K Rößler

An der letzten Pforte zur Unterwelt steht für Axel nun - etwas unscheinbar in der deutschen Übersetzung - ein Zitat:

>>

Im Augenblick, als wir uns hinein begaben, blickte ich empor, und sah zum letztenmal durch den unermeßlichen Tubus den Himmel Islands,

»den ich nicht wieder sehen sollte.«

<<

Im frz. Original :

>>

Au moment de m'engouffrer dans ce couloir obscur, je relevai la tête, & j'aperçus une dernière fois,

par le champ de l'immense tube, ce ciel de l'Islande

« que je ne devais plus jamais revoir. »

<<

Das Zitat lässt sich nicht so recht nachweisen und klingt wie ein Halbzitat

aus einem traurigen Vaudevilleliedchen, aber man glaubt, dass es sich auf

Sophokles' _Antigone_-Tragödie bezieht

(cf. Terry Harpold, T. Un intertexte sophocléen du voyage au centre de la terre. Réponse d'auteur. Bulletin de la Société Jules Verne, 2005, Nr. 153, S. 33-38.) und zwar auf diese Stelle:

'Antigone

Seht, ihr des Vaterlandes Bürger,

Den letzten Weg gehn mich

Und das letzte Licht

Anschauen der Sonne.

Und nie das wieder? Der alles schweigende Todesgott,

Lebendig führt er mich

Zu des Acherons Ufer, und nicht zu Hymenäen

Berufen bin ich, noch ein bräutlicher singt

Mich, irgendein Lobgesang, dagegen

Dem Acheron bin ich vermählt.'

Sophokles, Antigone, III,2 in der Übersetzung von Hölderlin.

In frz. Übersetzungen bis 1864, die Verne gekannt haben könnte,

findet sich diese Klage Antigones in vielerlei Gestalt.

Der lichte Himmel (über Island) kommt aber so nicht vor,

sondern nur Licht und Sonne und dann der vorausgeschaute

Gang in die Unterwelt als Hochzeit mit Gott Pluto.

Da dieses Kapitel jetzt viel Bezug zu Licht hat hier Beispiele:

Title : ... Sophocle. Antigone (expliquée littéralement et annotée par M. Benloew,... et traduite en français par M. Bellaguet,...)

Author : Sophocle (0496?-0406 av. J.-C.). Auteur du texte

Publisher : L. Hachette (Paris)

Publication date : 1864

Contributor : Bellaguet. Traducteur

Contributor : Benloew, Louis (1818-1900). Éditeur scientifique

Relationship : http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb38690926j

Interlinearübersetzung

'Antigone.

Regardez-moi, ô citoyens de la terre paternelle,

allant mon dernier chermin,

et voyant le dernier éclat du soleil, et jamais ensuite;

mais Pluton, qui assoupit-tous conduit moi vivante

vers le rivage de l'Achéron,

ni participant au mariage; ni aucun chant nuptial n'a chanté jamais moi;

mais j'épouserai l'Achéron.'

[https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b52000912p/f101.item

und entsprechende Prosaübersetzung:]

'Antigone. Citoyens de Thèbes ma patrie, voyez Antigone entrer

dans le sentier fatal, et pour la dernière fois contempler la clarté du soleil:

jen ne le verrai plus! Le dieu des enfers, dont tout est la proie, me conduit

vivante aux rives de l'Achéron, avant que j'aie goûté les douceures de l'hymen,

avant que les chants d'hyménée aient retenti pour moi; l'Achéron sera mon epoux.'

https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b52000912p/f101.item

Oder in einer eleganteren Übersetzung aus dem 18.Jh.:

'ANTIGONE.

Chers Citoyens, jettez les yeux pour la dernière fois

sur une Princesse infortunée. Oui, c’est pour la dernière

fois que je vois ia lumière du jour. Pour jamais l’avide

Pluton me conduit vivante aux sombres bords. Mon des-

tin m’a refusé les douceurs de l’hymen : jamais chant

nuptial ne fut formé en mon honneur. L’Achéron est

l'unique époux qui m’est reservé.'

[https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k3148025/f348.image.r=acheron

Title : Théâtre de Sophocle, contenant les tragédies de ce poëte qui n'avaient pas encore été traduites [Les Trachiniennes, Ajax furieux, Oedipe à Colone, Antigone], pour servir de Supplément au théâtre des Grecs, du Père Brunoy, par M. Dupuy,... Nouvelle édition

Author : Sophocle (0496?-0406 av. J.-C.). Auteur du texte

Publisher : Costard (Paris)

Publication date : 1773

Contributor : Dupuy. Traducteur

Relationship : http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb38690915w

]

und eine Übersetzung von 1852 :

'ANTIGONE.

Voyez-moi, citoyens de ma ville natale,

Entrer dans mon dernier chemin !

Ce suprême soleil qui luit sur mon front pâle,

Sur ma tombe il luira demain...

L'arbitre impérieux de toute destinée

M'entraîne, hélas! aux sombres bords...

Pour moi point de festons, point de chants d'hyménée...

Mon époux, c'est le dieu des morts!'

[https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k9618249z/f574.item

Title : Théâtre complet de Sophocle, suivi des fragments de ses drames perdus.

Traduction nouvelle en vers français par Théodore Guiard,...

Author : Sophocle (0496?-0406 av. J.-C.). Auteur du texte

Publisher : Dezobry et E. Magdeleine (Paris)

Publication date : 1852

Contributor : Guiard, Théodore (1814-1855). Traducteur

Relationship : http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb31384442p]

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Avatar von Christina Dongowski

“ Je tiefer wir einen Gegenstand wissenschaftlich erforschen, je weiter die technische Entwicklung foranschreitet, desto mehr nähert sie sich für den Normalbürger wieder der Magie an, das Licht der Aufklräung fragmentiert und “zerstreut sich in einen Funkenregen”. — Das ist eine der Prämissen für Walter Benjamins Passagen-Projekt (& in gewisser Weise auch für Adorno & Horkheimers Dialektik der Aufklärung). Ich lese gerade sehr viel von & zu Benjamin und bin low key genervt, dass sein Gewährsautor Beaudelaire ist, Verne aber nur sehr am Rande mal vorkommt. Da gibt’s schon auch Gründe für, aber trotzdem, Beaudelaire schon auch einfach sehr berechenbares Bohème-Klischee .

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Avatar von Ulrich K Rößler

Meiner schwachen Erinnerung nach kommt Charles Fourier als phantastischster Frühsozialist ziemlich oft in den Notizen zum Passagen-Projekt vor. Ich glaube dessen Visionen einer zukünftigen Welt mit Limonadenmeeren und Aurora Borealis sollte irgendwie mit Jules Vernes Phantastik zu tun haben. Da ist eine ähnliche planetarische Sicht auf die Welt (es gibt auch von Doré so ganz verrückte Bilder mit Brücken zwischen Planeten) und die Idee, dass die Menschheit nun darangehen wird, den Planeten transformieren zu können. Die Atmosphäre dieser Ideen und Vernes umfassende Geographie der Erde und darüber hinaus mit durchaus schon grosstechnischen Methoden (Ballone, Riesenkanonen, Unterseeboote) ähneln sich wohl, selbst wenn Vernes politische Ansichten in andere Richtung liefen, so er denn welche hatte.

Irgendwo fand sich auch eine Bemerkung, dass Verne wenigstens Sympathien für die Ideen Saint-Simons hatte und via seinen Verleger Hetzel war er mit der republikanischen Linken doch wohl in gewissem Kontakt. Keine Ahnung ob das wirklich belegbar ist.

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Avatar von Matthias

Mir geht es mit Hans anders, aber aus zwei Gründen, die (mindestens bisher) nicht im Text liegen:

Erstens lese ich mit der Erwartung, dass es sich um Abenteuerliteratur handelt und die Genrekonvention erfordert, dass Gruppenmitglieder mit verschiedenen herausragenden Kompetenzen zusammenarbeiten, um Großes zu vollbringen. (TVTropes schlägt den Begriff "Power Trio" vor und arbeitet diverse Blaupausen raus: https://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/PowerTrio(

Da Hans Einführung zunächst nichts verbindliches zu seinen Fähigkeiten gesagt hat ("Eiderentenjäger" ...) lese ich die Beschreibungen der stoischen Reaktionen und des katzengleichen Kletterns so, dass sich jetzt herausstellt, dass er körperlich extrem leistungsfähig und unerschrocken ist.

Zweitens erinnere ich mich aus meiner Erstlektüre vor Jahrzehnten noch sehr lebhaft daran, dass Hans (im Gegensatz zu Axel ...) noch einiges reißt. (TVTropes schlägt übrigens vor, in dieser Phase von einem "Comic Trio" auszugehen - in dem Hans dann tatsächlich als Narr aufträte - das aber später gebrochen wird https://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Literature/JourneyToTheCenterOfTheEarth).

Am Rande: Bei allen Details zum Licht wieder kein Wort zu Gerüchen und Luftqualität. Temperatur kommt nur in abstrakten Angaben vor, Geschmack in der Benennung der verzehrten Lebensmitteln. Wie viel besser könnten wir uns einfühlen, wenn ein paar Worte dazu fielen, wie es in einem Lavagang riecht, der seit Jahrhunderten nicht betreten wurde ...

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