Wer in der Mitte unserer Reise noch hinzukommen möchte, kann hier die letzten Abschnitte nachlesen oder direkt hier einsteigen:
Ich füge in jeder Woche einen Textabschnitt aus der deutschsprachigen Erstübersetzung (Link zum Projekt Gutenberg) in die eMail ein, sodass alle interessierten Mitreisenden den Text für die jeweilige Woche direkt in ihrem Posteingang haben. Wer eine andere Ausgabe (oder Sprache) liest, kann über diesen kursiv gesetzten Abschnitt hinwegscrollen, alle anderen beginnen diesen Etappenabschnitt hier:
[CN Im Kapitel für diese Woche kommt in der deutschen Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert das rassistische N-Wort vor.]
Viertes Capitel.
Entzifferung des Geheimnisses.
»Er ist fort, rief Martha, die herbeigelaufen kam, als er die Hausthür so heftig zuschlug, daß von dem Schmettern das ganze Haus erschüttert wurde.
– Ja, erwiderte ich, ganz und gar fort!
– Nun! und sein Mittagessen? sagte die alte Dienerin.
– Er wird nicht zu Mittag speisen!
– Und sein Abendessen?
– Er wird auch nicht zu Abend speisen!
– Wie? sagte Martha und rang die Hände.
– Nein, gute Martha, er wird nicht mehr essen, und Niemand im ganzen Hause. Mein Oheim läßt uns alle fasten, bis es ihm gelingt, ein altes Gekritzel, das durchaus unleserlich ist, zu entziffern!
– Jesus! So bleibt uns also nichts, als Hungers sterben.«
Ich getraute nicht, einzugestehen, daß bei einem so unbedingten Mann, wie mein Oheim, dies uns unvermeidlich bevorstehe.
Ernstlich beunruhigt begab sich die alte Dienerin mit Seufzen in ihre Küche zurück.
Als ich allein war, kam mir der Gedanke, zu Gretchen zu eilen und ihr Alles zu erzählen. Aber wie konnte ich das Haus verlassen? Der Professor konnte jeden Augenblick heim kommen. Und wenn er nach mir rief? Und wenn er seine Enträthselungsarbeit, die man dem alten Oedipus vergeblich vorgelegt haben würde, wieder anfangen wollte? Und was würde es geben, wenn ich auf sein Rufen nicht Antwort gäbe?
Das Klügste war, zu bleiben. Eben hatte uns ein Mineralog aus Besançon eine Sammlung Klappersteine vom Kieselgeschlecht zugeschickt, welche zu classificiren waren. Ich machte mich an die Arbeit. Ich sonderte aus, machte Etiketten, ordnete in ihrem Glaskasten alle die hohlen Steine, worin kleine Krystalle eingeschlossen waren.
Aber diese Thätigkeit beschäftigte mich nicht völlig. Das alte Document machte mir in den Gedanken viel zu schaffen. Mein Kopf glühte, und eine unbestimmte Unruhe ergriff mich. Ich ahnte eine bevorstehende Katastrophe.
Nach Verlauf einer Stunde waren meine Klappersteine geordnet. Darauf wiegte ich mich in dem großen Lehnstuhl, den Kopf rückwärts, die Arme baumelnd. Ich zündete meine Pfeife an, deren lange krumme Röhre am Kopf mit dem Bild einer Nymphe geziert war, und ergötzte mich daran, die Fortschritte der Verkohlung zu beobachten, wodurch die Nymphe zu einer vollständigen Negerin geworden war. Von Zeit zu Zeit lauschte ich, ob sich nicht Tritte auf der Treppe vernehmen ließen. Nichts zu hören. Wo mochte mein Oheim eben sein? Ich sah ihn in Gedanken die schöne Allee der Altonaer Straße entlang laufen, gesticulirend, mit kräftigem Arm die Kräuter zerschlagen, Disteln köpfen und die Schwäne in ihrem Frieden stören.
Wird er triumphirend oder entmuthigt heim kommen? Sollte er das Geheimniß heraus bekommen haben? So fragte ich mich, und nahm maschinenmäßig das Blatt Papier in die Hand, worauf die von mir geschriebenen unverständlichen Zeilen sich befanden. Ich wiederholte:
»Was bedeutet dies?«
Ich versuchte die Buchstaben so
zu gruppiren, daß sie Worte bildeten. Unmöglich. Man mochte sie zu zwei, drei, fünf oder sechs zusammenstellen, es kam durchaus nichts Verständliches heraus. Doch ließ sich aus dem vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Buchstaben das englische Wort »ice« bilden, aus dem vier-, fünf- und sechsundachtzigsten das Wort »sir«. Endlich erkannte ich mitten in dem Document auf der dreißigsten Zeile die lateinischen Worte »rota«, »mutabile«, »ira«, »nec«, »atra«.
Teufel, dacht' ich, diese letzteren Wörter könnten wohl meinem Oheim Auskunft über die Sprache des Documents geben! Und da sehe ich gar, auf der vierten Zeile noch das Wort »luco«, das einen »heiligen Hain« bedeutet. Zwar auf der dritten Zeile ist das Wort »tabiled« zu lesen, welches ganz hebräisch aussieht, und auf der letzten die Wörter »mer«, »arc«, »mère«, die rein französisch sind.
Darüber konnte man den Kopf verlieren: Vier verschiedene Sprachidiome in einer sinnlosen Phrase! In welchem Zusammenhang konnten die Wörter »Eis«, »Herr«, »Zorn«, »grausam«, »heiliger Hain«, »wechselnd«, »Mutter«, »Bogen«, »Meer« stehen? Das letzte und erste allein ließen sich leicht an einander reihen: es wäre nicht zu verwundern, wenn in einem auf Island geschriebenen Document von »Eismeer« die Rede wäre. Aber den übrigen Theil des Geheimschriftstücks zu begreifen, war doch eine andere Aufgabe.
Ich rang also mit einer unlöslichen Schwierigkeit; mein Gehirn erhitzte sich, meine Augen blinzelten bei dem Blick auf das Blatt; die hundertzweiunddreißig Buchstaben schienen um mich herum zu hüpfen, wie die Silbertropfen, die in der Luft unseren Kopf umflimmern, wenn das Blut stark dahin dringt.
Es wandelten mich Phantasiegesichte an; der Athem ging mir aus; ich bedurfte Luft. Unwillkürlich fächelte ich mich mit dem Blatt Papier, so daß seine Vorder- und Rückseite abwechselnd mir vor Augen kamen. Wie war ich überrascht, als ich bei einem solchen raschen Umwenden vollkommen lesbare Wörter zu erkennen glaubte, lateinische Wörter, z.B. »craterem«, »terrestre«.
So drang auf einmal ein Lichtstrahl in meinen Geist; diese einzigen Spuren führten mich auf den Weg der Wahrheit; ich hatte das Gesetz der Chiffre gefunden. Um das Document zu verstehen, brauchte man nicht einmal quer über auf die Rückseite des Blattes zu lesen! Nein.
Gerade so, wie es war, gerade so, wie mir's dictirt wurde, konnte es geläufig buchstabirt werden. Alle sinnreichen Gedanken des Professors verwirklichten sich. Er hatte Recht in Hinsicht der Zusammenreihung der Buchstaben, sowie in Hinsicht der Sprache. Um dieses lateinische Schreiben von Anfang bis zu Ende lesen zu können, bedurfte er nur noch »etwas«, und dieses »etwas« wurde mir vom Zufall gegeben.
Natürlich war ich sehr im Gemüth ergriffen. Meine Augen wurden trübe, so daß sie mir den Dienst versagten. Ich hatte das Papier auf dem Tisch ausgebreitet. Ich brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um das Geheimniß in Besitz zu bekommen.
Endlich ward ich mit Mühe meiner Bewegung Herr. Um meine Nerven ruhig werden zu lassen, legte ich mir auf, zweimal durch das Zimmer zu gehen, darauf wiegte ich mich wieder in dem großen Lehnstuhl.
»So will ich lesen«, rief ich aus, nachdem ich aus tiefer Brust aufgeathmet.
Ich neigte mich über den Tisch, verfolgte mit dem Finger der Reihe nach jeden Buchstaben, und las ohne anzuhalten, ohne einen Augenblick zu stocken, mit lauter Stimme den ganzen Satz.
Aber welche Bestürzung, welcher Schrecken befiel mich! Ich stand Anfangs wie vom Schlag gerührt. Wie! Was ich eben gelernt hatte, war schon am Ziel! Ein Mensch war kühn genug, dahin zu dringen! ...
»Ah! rief ich hüpfend aus, nein! nein! Mein Oheim soll's nicht erfahren! Er würde unfehlbar eine solche Reise vornehmen! Er würde auch diesen Genuß haben wollen! Nichts würde ihn abhalten können! Ein so entschlossener Geolog! Er würde jedenfalls hinreisen, trotz Allem! und er würde mich mitnehmen, um nimmer heimzukehren! Niemals! nie!«
Ich war in unbeschreiblicher Aufregung.
»Nein! nein! Das wird nicht geschehen, sagte ich mit Energie, und da es in meiner Macht steht, zu verhindern, daß meinem Tyrannen eine solche Idee in den Sinn komme, so will ich's thun. Wenn er das Document um- und herumwendet, könnte er zufällig den Schlüssel desselben entdecken! So will ich's vernichten!«
Im Kamin war noch ein wenig Feuer. Ich ergriff nicht allein das Blatt Papier, sondern auch das Pergament des Saknussemm; mit fieberhaft zitternder Hand war ich im Begriff, es mit einander auf die Kohlen zu werfen, und so das gefährliche Geheimniß zu vernichten. Da öffnete sich die Thür des Zimmers und mein Oheim trat ein.
In der letzten Woche sind wieder Kaum haben wir uns auf die Reise in den Erdkern aufgemacht, beginnt es dort zu rumoren.
Außerdem wurde ein mysteriöse Runeninschrift in Schottland entlich entziffert und der älteste bekannte Runenstein in Norwegen gefunden. Ich muss nichtmal meinen Computer für Frischluft hin und her wedeln, um diese Zeichen zu verstehen. Nicht nur in unserer Realität geht es hoch her, auch für den allzeit hungrigen Axel wird es bedrohlich, denn wenn das Schriftstück nicht entziffert wird, gibt es kein Mittag- und kein Abendessen mehr. Wer würde angesichts einer solchen Vorahnung nicht am liebsten “Klappersteine vom Kieselgeschlecht” klassifizieren? Der Onkel bringt in seiner Wut Flora und Fauna dureinander, köpft Diesteln und stört Schwäne. Für die Gretchen / Graüben- Freunde gibt es auch in diesem Kapitel zumindest den Gedanken, dass man sie mal treffen könnte aber (noch?) bleibt sie das Bild an der Wand, die unbewusste Referenz, die Person zu der Axel am liebsten hineilen würde.
[Für das dritte Kapitel der französischen Ausgabe von 1867 hat Édouard Riou uns übrigens Gretchen / Graüben gezeichnet. Warum sie da jetzt die Leiter abstaubt bleibt aber unklar, dafür steht sie ganz (minera)logisch auf einem Stück Stein.]
Mir gefällt, dass wir in dieser Woche ganz nebenbei lernen, dass auch Axel problemlos diverse Sprachen spricht (?) bzw. erkennt. All dieses Wissen hilft ihm jedoch fast gar nicht, denn den Sinn des Dokuments erkennt er erst, als er sich – weltlichen Bedürfnissen folgend – mit dem Manuskript Luft zufächert. Die Schilderungen von Axels Dilemma “…die hundertzweiunddreißig Buchstaben schienen um mich herum zu hüpfen, wie die Silbertropfen, die in der Luft unseren Kopf umflimmern, wenn das Blut stark dahin dring.” haben beinahe etwas comichaftes.
Das Entschlüsseln des Geheimdokuments hing vom Zufall ab, dem vielleicht besten erzählerischen Kniff. Die Entschlüsselung wird von Verne verwirrend beschrieben, dass man beim Lesen irgendwann aufhört es nachvollziehen zu wollen und stattdessen denkt, dass man einen von diesen Lichtstrahlen in den Geist benötigt.
“Ein so entschlossener Geolog! Er würde jedenfalls hinreisen, trotz Allem! und er würde mich mitnehmen, um nimmer heimzukehren! Niemals! nie!” Axel hat sichtlich überhaupt keine Lust auf die Reise (und die Trennung von Gretchen/Graüben?). Um in Hamburg zu bleiben würde er sogar das Manuskrip verbrennen, aber das schafft er gottseidank nicht und wir können hoffentlich bald aus Hamburg aufbrechen.
Ich freue mich – wie jede Woche – über eure Gedanken und Kommentare und all die Links zu den Verneschen Ereignissen und Entdeckungen unserer Gegenwart.
Dieser Newsletter ist eine Herzensangelegenheit und wird deswegen für die gesamte Dauer des gemeinsamen Reisens selbstverständlich umsonst bleiben, damit wirklich alle Interessierten dabei sein können. Hier kann man mir jedoch ein gemütliches Herdfeuer (zum Verbrennen unliebsamer Reisedokumente) spendieren.
Ich lese auch von Kapitel zu Kapitel und hab das mit den zwei Seiten noch nicht so ganz kapiert. Frag mich, ob das nochmal genauer erklärt wird oder ob es bei diesem wirklich sehr comichaften Bild bleibt. Überhaupt alles sehr bildhaft und alles immer sehr nach Außen gerichtet, sehr motorisch und irgendwie krawallig. Axel ruft alle seine Gedanken aus - letzte Woche hat jemand geschrieben, dass das regelrechte Theaterszenen sind. Das Erzähltempo und die ganze Ökonomie des Erzählens ist auch irgendwie sehr gut durchgetaktet, fühlt sich ein bisschen an wie bei Tim und Struppi oder in einem Spielberg-Film. Trotz Aufzählungen oder skurrilen Details geht es dynamisch voran, verliert sich nicht in der Beschreibung wie bei Balzac oder Zola (was auch toll ist, aber halt anders). Das N-Wort kommt übrigens auch im französischen Original vor und es handelt sich bei der Pfeife offenbar wieder um so ein Objekt wie der Nussknackerstock oder der Sessel, die irgendwie markant sind für diese Welt. Mittlerweile glaube ich, dass diese Dinge irgendwie "deutsch" sein sollen aus französischer Perspektive, schrullig, irgendwie fantastisch aber auch spießig. Die Najadenpfeife erinnert mich an den exotistischen Krempel mit dem auch ein Karl May oder ein Gerstäcker ihre Häuser vollgestopft haben, sowas wie der Wackelkopfchinese in Effi Briest. Anders als bei den französischen Romantiker*innen haben diese Dinge aber keine magischen Eigenschaften mehr, scheinen nur Requisiten zu sein.
Ich habe mir vorgenommen nicht vorrauszulesen sondern wirklich jede Woche ein Kapitel. Dieser Cliffhanger macht mich dementsprechend fertig. Will ich doch wissen was die Reaktion des Professors ist, der nun seinen Neffen in flagranti bei Versuch, Schriften von unschätzbarem Wert zu vernichten, erwischt. Aber das dann nächste Woche.
Als Rätselbegeisterte war mir die ganze Chiffrenummer definitiv zu konfus beschrieben, und wie genau die Lösung jetzt funktioniert will in meinen Kopf nicht rein. Runen übersetzen scheinbar zufällig neu anordnen und irgendwie von beiden Seiten des Blattes lesen? Natürlich, dass ich da nicht drauf gekommen bin...