Wer in der Mitte unserer Reise noch hinzukommen möchte, kann hier die letzten Abschnitte nachlesen oder direkt hier einsteigen:
Ich füge in jeder Woche einen Textabschnitt aus der deutschsprachigen Erstübersetzung (Link zum Projekt Gutenberg) in die eMail ein, sodass alle interessierten Mitreisenden den Text für die jeweilige Woche direkt in ihrem Posteingang haben. Wer eine andere Ausgabe (oder Sprache) liest, kann über diesen kursiv gesetzten Abschnitt hinwegscrollen, alle anderen beginnen ihren Etappenabschnitt hier:
Siebenzehntes Capitel.
In den Schlund hinab.
Nun begann erst die wahre Reise. Bisher gingen die Beschwerden über die Schwierigkeiten; jetzt sollten diese im wahren Sinn des Wortes uns unter den Füßen aufwachsen.
Ich hatte meinen Blick noch nicht in den unergründlichen Schlund gesenkt, in welchen ich mich hinabwagen sollte. Jetzt war der Moment gekommen, an dem Vorhaben entweder mich zu betheiligen oder dies zu verweigern.
Aber ich schämte mich, von dem Jäger mich hierin übertreffen zu lassen. Hans gab sich bei dem gewagten Unternehmen zufrieden, so ruhig, so gleichgiltig, so unbekümmert um jede Gefahr, daß ich mich schämte, weniger tapfer zu sein, als er. In seiner Gegenwart unterließ ich also, Einwendungen zu machen; ich erinnerte mich meiner hübschen Vierländerin und trat zu der mittleren Oeffnung heran.
Dieselbe maß, wie gesagt, hundert Fuß im Durchmesser, oder dreihundert im Umfang. Ich bog mich über einen Felsblock und blickte hinein. Die Haare sträubten sich mir, es kam mir der Schwindel; ich fühlte wie ein Trunkener, daß der Schwerpunkt in mir sich änderte. So ein Abgrund äußert eine gefährliche Anziehungskraft, ich war im Begriff, hinabzufallen. Da hielt mich Hans mit starker Hand. Sicherlich hätte ich zu Kopenhagen noch mehr Schwindel-Lectionen haben sollen.
So kurze Zeit ich in den Schlund hinabgeblickt, hatte ich mir doch gemerkt, wie er beschaffen war. An seinen fast senkrechten Wänden befanden sich zahlreiche Vorsprünge, welche das Hinabsteigen erleichtern mußten. Aber gebrach's auch nicht an einer Leiter, so fehlte es an einem Geländer. Ein an der Mündung befestigtes Seil konnte wohl hinreichend stützen, aber wie sollte man es los machen, wenn man unten war?
Dafür gab's ein einfaches Mittel, welches mein Oheim in Anwendung brachte. Er nahm ein zolldickes, vierhundert Fuß langes Seil, und ließ es erst zur Hälfte hinab, dann schlang er es um einen vorspringenden Lavablock, und warf die andere Hälfte nach. Nun konnte jeder von uns, indem er die beiden Hälften des Seiles in die Hand faßte, sich beim Hinabsteigen dadurch unterstützen; war man aber in der Tiefe von zweihundert Fuß angelangt, so war es höchst leicht, indem man das eine Ende los machte, das ganze Seil hinabzuziehen. Dieses Verfahren konnte man so oft wiederholen, als es beliebte und erforderlich war.
Als diese Vorbereitungen fertig waren, sagte mein Oheim: »Jetzt machen wir uns an das Gepäck; es wird in drei Päcke vertheilt, wovon jeder von uns eines auf seinen Rücken nimmt; ich meine nur die zerbrechlichen Gegenstände.«
Offenbar zählte der kühne Professor uns nicht zu den letzteren.
»Hans, fuhr er fort, wird die Werkzeuge mit einem Theil der Lebensmittel übernehmen; Du, Axel, ein zweites Drittel des Proviants nebst den Waffen; ich den Rest und die feineren Instrumente.
– Aber, sagte ich, die Kleider, die Menge Taue und Leitern, wer soll die hinab schleppen?
– Die kommen schon von selbst hinab.
– Wie so? fragte ich.
– Du wirst's gleich sehen.«
Und sogleich schritt er zur Ausführung. Hans machte aus allen nicht zerbrechlichen Gegenständen einen einzigen Pack, verschnürte ihn tüchtig, dann wurde er ohne Weiteres in den Abgrund geworfen.
Ich vernahm ein lautes Getöse, womit der Pack hinab polterte. Mein Oheim beugte sich vor, und begleitete mit befriedigtem Blick das rollende Gepäck, so lange er es wahrnehmen konnte.
»Gut, sagte er. Jetzt kommt die Reihe an uns.«
Ich frage jeden aufrichtigen Menschen, ob man solche Worte ohne Schaudern anhören kann.
Der Professor nahm den Pack mit den Instrumenten auf seinen Rücken, Hans den mit dem Geräthe, ich die Waffen. Beim Hinabsteigen ging Hans voran, dann kam mein Oheim, zuletzt ich. Es ging dabei ganz stille her, nur daß man zuweilen Felsstücke, die sich los machten, in den Abgrund rollen hörte.
Ich rutschte, so zu sagen, hinab, indem ich mit der einen Hand krampfhaft das doppelte Tau faßte, mit der andern der Stütze des Stocks mich bediente. Ich hatte große Besorgniß, es möge der Stützpunkt mangeln. Das Tau schien mir zu schwach, um die drei Personen zu tragen. Daher bediente ich mich desselben so wenig wie möglich, indem ich auf den Lavastücken, die mein Fuß aufsuchte, mir das Gleichgewicht zu erhalten bemüht war.
Als eine von diesen Stufen hinabgleitend dem Hans unter die Füße gerieth, sagte er ruhig!
»Gif Akt!
– Acht gegeben!« wiederholte mein Oheim.
Nach einer halben Stunde waren wir auf einem Felsen angelangt, der fest in der Wand des Schlundes stak.
Hans zog an einem Ende des Taues, während das andere in die Höhe glitt; nachdem es oben über den Felsen, um den es geschlungen war, gezogen worden, fiel es hinab, indem es Steine und Lavastücke gleich einem Regen oder vielmehr wie ein gefährlicher Hagel mit sich fortriß.
Indem ich mich über unsern schmalen Ruheplatz vorbog, bemerkte ich, daß der Boden des Schachtes noch nicht sichtbar war.
Wir brachten von Neuem das Tau in Anwendung, und nach einer halben Stunde waren wir wieder um zweihundert Fuß weiter gekommen. Ich meines Theils kümmerte mich wenig um die Bodenbeschaffenheit, aber der Professor stellte Beobachtungen an und machte sich Notizen, denn an einem Haltepunkt sprach er zu mir:
»Je weiter ich komme, desto zuversichtlicher bin ich. Die Beschaffenheit des vulkanischen Erdreichs rechtfertigt durchaus die Theorie Davy's. Der Boden, worauf wir uns befinden, ist durch und durch ursprünglicher Boden, worin die chemische Operation der Metalle vorging, welche bei der Berührung mit Luft und Wasser in Gluth und Flammen geriethen. Ich weise unbedingt das System einer centralen Wärme zurück. Uebrigens, wir werden's schon sehen.«
Stets die nämliche Folgerung. Man begreift, daß ich zum Disputiren keine Lust hatte. Mein Schweigen wurde als Zustimmung gedeutet, und das Hinabsteigen begann von Neuem.
Nach Verlauf von drei Stunden konnte ich noch nicht den Boden des Schlundes erkennen. Als ich aufwärts blickte, gewahrte ich, wie seine Mündung merklich kleiner geworden war. Seine Wände zeigten das Streben, sich näher zu kommen. Allmälig ward es dunkler.
Inzwischen stiegen wir immer weiter hinab; es schien mir, als sei das Anprallen der losgelösten Steine, welche hinab rollten, schon matter, und als müßten sie schon bald auf den Grund kommen.
Da ich genau notirt hatte, wie oft wir das Tau in Anwendung brachten, so konnte ich die Tiefe, welche wir erreicht, und die verbrauchte Zeit berechnen.
Wir hatten nun vierzehnmal die Verrichtung vorgenommen, welche jedesmal eine halbe Stunde dauerte. Das machte im Ganzen sechs und eine halbe Stunde. Nachdem wir um ein Uhr angefangen, mußte es jetzt elf Uhr sein. Die Tiefe, zu der wir gelangt waren, berechnete sich mit vierzehnmal zweihundert Fuß auf zweitausendachthundert.
In diesem Augenblick ließ Hans sich vernehmen:
»Halt!« rief er.
Ich hielt plötzlich an, als ich eben im Begriff war, meinem Oheim auf den Kopf zu treten.
»Wir sind am Ziel, sagte er.
– Wo? fragte ich, indem ich zu ihm glitt.
– Auf dem Boden der senkrechten Schlucht.
– Ist nicht ein anderer Ausgang da?
– Ja, ich sehe eine Art Gang zur rechten Hand. Das werden wir morgen sehen. Jetzt wollen wir speisen, hernach schlafen.«
Es war noch nicht völlig dunkel. Man öffnete den Proviantsack und aß, dann legte sich jeder so gut er konnte, auf ein Lager von Steinen und Lavabrocken.
Und als ich, auf dem Rücken liegend, die Augen aufschlug, bemerkte ich am Ende des dreitausend Fuß langen Tubus eines riesenhaften Fernrohrs einen glänzenden Punkt.
Es war ein Stern ohne alles Flimmern; meiner Berechnung nach mußte es σ im kleinen Bären sein.
Darauf schlief ich ein und genoß einen tiefen Schlaf.
[Der Abstieg, Illustration von Édouard Riou aus der frantösischen Ausgabe von 1867]
Kapitel 17 und: “Nun begann erst die wahre Reise.” Es geht hinab und Axel ist ängstlich, wie es bereits vielfach in den vorherigen Kapiteln etabliert wurde. Wir erfahren etwas über die Reaktion von Hans, der auch weiterhin merkwürdig eindimensional stoisch und ungerührt bleibt: “Hans gab sich bei dem gewagten Unternehmen zufrieden, so ruhig, so gleichgiltig, so unbekümmert um jede Gefahr, daß ich mich schämte, weniger tapfer zu sein, als er.” Der isländische Begleiter rettet dann auch noch ganz nebenbei Axel, als dieser fast in den Krater hinabstürzt.
Gottseidank beherrscht der Professor elementare Abseiltechniken, sodass der Abstieg an den Wänden sicher erfolgen kann. Doe dynamische Beziehung zwischen dem furchtsamen Axel und dem sorglosen Professor sorgt wieder für einigen Humor und ist sicherlich beispielgebend für viele nachfolgende Erzählungen von Meister und Sidekick, Professor und Student, Lehrer und Schüler gewesen. Man muss schon auch gestehen, dass die Schilderung eines Abstiegs ins Unbekannte nicht besonders vertrauenserweckend wirkt, ich bin klar auf Seite von Axel und seiner vernünftigen Einschätzung der Situation. Fasznierend in der Gruppendynamik dieses recht kurzen Kapitels ist, dass es Hans ist, der erklärt am Ziel zu sein und die Nachtruhe einleitet. Diese vermittelnde Position zwischen dem hochriskanten Wahnsinn des Professors und dem ängstlichen Axel hatte sich in den vorherigen Kapiteln schon angedeutet, aber wird mit seinem Machtwort “Halt” nun wirklich deutlich.
Ich finde den letzten Abschnitt im Kapitel faszinierend, als Axel nach oben schaut und dort den Stern “σ im kleinen Bären” sieht, woraufhin er ruhig einschläft. Im französischen Original sieht Axel nicht den Stern Sigma (σ) sondern “β de la petite Ourse.” Vermutlich ist hier aber weder Sigma noch Beta gemeint, sondern α Ursae Minoris, der hellste Stern im Sternbild: der Polarstern? Ruhe verschafft Axel vermutlich das Gefühl nicht von der Oberfläche abgeschnitten zu sein, den Himmel noch in weiter Ferne sehen zu können.
Dieser Newsletter ist eine Herzensangelegenheit und wird deswegen für die gesamte Dauer des gemeinsamen Reisens selbstverständlich umsonst bleiben, damit wirklich alle Interessierten dabei sein können. Hier kann man mir jedoch eine Mitgliedschaft in einer literarischen Gesellschaft spendieren.
Im August erscheint mein dritter Roman Unter weitem Himmel, in dem Ísland eine ganz entscheidende Rolle spielt. Es geht zwar nicht ins Erdinnere dafür aber in die Ostfjorde, wo 1904 ein Krankenhaus des französischen Staats in Betrieb genommen wurde. Man kann das Buch bereits vorbestellen, zum Beispiel unter diesem Link.
Ich würde beta UMi (auch Kochab genannt) nicht als Kandidaten ausschließen wollen. Wir schauen schließlich mit Axel zusammen aus einem über 850 m tiefen, gerade mal 30 m breiten Loch nach oben und sind dabei "nur" auf Island und nicht am Nordpol. Da beta UMi ein orangeroter Riesenstern ist, kann man ihn mit ein bisschen Erfahrung schon vom Polarstern unterscheiden. Vielleicht sollten wir etwas mehr Zutrauen in Axel haben?
Wenn man vom Klettern kommt wird einem bei dieser Abstiegstechnik ganz anders, die Illustration hat da auch nicht wirklich geholfen…
Und macht sich irgendwer Gedanken um den Aufstieg?! 😅