Die Ausgabe der Bib. Pléiade merkt zu den Runen im Granitfelsen lapidar an:
'L'inscription sur un bloc de rocher semble reprendre un détail du récit de Pont-Jest, _La Tête de Mimer_'
Gemeint ist eine Erzählung von René de Pont-Jest (1829-1904) [https://fr.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_de_Pont-Jest], die so interessante Parallelen mit Jules Vernes 'Voyage au Centre de la Terre' (VCT) aufweist, dass Pont-Jest 1877 ihn und Vernes Verleger Hetzel wegen Plagiats verklagte.
Verne wies alle Anschuldigungen von sich und die Klage wurde abgewiesen, wohl weil Verne einen fähigen Anwalt hatte und Pont-Jest sich selber eher ungeschickt vertrat und völlig überzogene Ansprüche gelten machen wollte. Zu dieser Plagiatsaffäre kann man bei Volker Dehs, _Jules Verne: eine kritische Biographie_, Artemis & Winkler, Düsseldorf, Zürich 2005 nachlesen. Anscheinend waren Plagiatsvorwürfe in literarischen Frankreich der Zeit aber eine Art Gesellschaftsspiel aus Reklameabsicht und mit finanziellem Interesse.
Parallelen zwischen _La Tete de Mimer_ (LTM) und VCT sind aber stark:
Protagonist - etwas verträumter junger Mann mit Interesse an Wissenschaften. Graüben (VCT) ermutigt eine Forschungsreise, dagegen Marguerite (LTM) als vernachlässigte Verlobte will den Helden abhalten, beide sehr blond & blauäugig - aber das ist ja Standardklischee für deutsches weibliches Personal. Heimatstadt ist Frankfurt a.M. (LTM) bzw. Hamburg (VCT) beide imt pittoresken Häusern und Verkauf alter Bücher. Runenpergament, das mit einem alten Buch von Erasmus (LTM) oder Saknussem (VCT) erworben wird, und dann von altem Gelehrten entziffert wird (Meister Wolfram - LTM) oder eben nicht (Professor Lidebrock - VCT) und das eine Reise in den Norden auf einen Berg auslöst. In beiden Texten spielt bei der Entzifferung die Nähe des Pergaments zu einem offenen Kamin/Feuer eine Rolle - das kommt aber ja aus E.A.Poes _Goldbug_. Es muss ein Berg bestiegen werden, "Nunsfjeld" in Norwegen (LTM) oder der Sneffels. Es gibt recht einsilbige Dienerschaft (Smith - LTM) oder lokale Führer (Hans). Oben auf dem Berg findet sich ein Granitfelsen mit Runen als Zeichen, dass man an der rechten Stelle ist. Dort muss nun eine komplizierte Ortung wie mit dem Schatten einer Sonnenuhr zu einem bestimmten Datum ausgeführt werden - natürlich entspricht das wieder Poes Schatzsuche im Goldbug. Allerdings spielt bei Pont-Jest zusammen mit der Mitternachstsonne jenseits des Polarkreises auch der Mond eine Rolle, der bei ihm auch noch im Westen aufgehen soll, was die Schatzsuche sicherlich etwas kompliziert. Das spezifische Datum in LTM ist die Sommertag-und-Nachtgleiche - ein heidnisches Fest! Auf dem Sneffels ist es vor dem 1. Juli.
Die leichte Abweichung bei dem Datum zwischen den beiden Geschichten ist für mich der stärkste Hinweis, dass sich Verne hier wirklich etwas herausgenommen hat bei Pont-Jest und seine Spuren leicht, ja nachlässig im Sinne von _plausible deniability_ verwischen wollte. Plagiat ist das aber vermutlich kaum, schon weil beide Autoren sich bei Poe zuvörderst bedienen.
Sonst ist die Geschichte bei Pont-Jest eine etwas überladene und langatmige romantische Erzählung - vermutlich inspiriert von Tiecks Runenberg und dem Freischütz. Die Hybris des Helden, der seine Marguerite ins frühe Grab bringt und die ewige Liebe zurückgewiesen hat weil er sich stattdessen mit altheidnischen Kräften Allwissenheit erwerben wollte, wird in einer eher lieblos heruntergeschriebenen kurzen Nachschrift, mit vorläufigen Martern, Tod & Verderben bis in alle Ewigkeit oder wenigstens zum jüngsten Gericht abgestraft. Die Geschichte und wie sie geschrieben ist, illustriert aber schon den literarischen Humus, in dem Verne seine Romane heranzüchtet.
Die Plagiatsgeschichte findet sich auch im Anhang der Dehs-Übersetzung bei dtv. Interessant wäre es, ob Verne heute einen anderen Arbeitsansatz gewählt hötte und ob man mit heutigem Blick die ganze Thematik anders bewertet. Gibt es dazu eigentlich neuere Erkenntnisse? Sind Verne und sein Werk eigentlich überhaupt noch Präsent in der Forschung? Oder beschränkt sich das auf Menschen, die sich wie wir hier persönlich sehr angezogen fühlen?
Ich bin nun kein LitWissenschaftler, aber "Jules Verne" als Untersuchungsobjekt scheint hinreichend fest etabliert zu sein, wenn man scholar.google nach Literatur zu diesem "Jules Verne" + irgendetwas fragt, finden sich Aufätze, Dissertationen usf. zu sehr Vielem. Da JV überhaupt erfolgreichster/wirkungsmächtigster frz. Autor ist, ist das eher zu erwarten, nachdem er vorher lange wohl nur als indiskutabel und trivial angesehen war. Gegenwärtig (letzte 30 Jahre) scheint der Zustand der Diskussion sich eher auf Einzeluntersuchungen zu konzentrieren. Die grossen etwas gewagten Deutungen, die Verne überhaupt erst akzeptabel für die Literaturkritik erscheinen liessen - z.B. der sehr schöne Aufsatz von Butor aus den 1950er und die entsprechenden kurzen Bemerkungen/Appelle von Leiris, Serres und einigen wenigen anderen zur Bedeutung Vernes, liegen alle weit zurück. Die heterogene Natur seiner Werke plus die Liebhaber/Amateure, - und Volker Dehs wird wohl auch dazu zu zählen - implizieren aber, dass es gleichzeitig diese parallele Sekundärliteratur der Fans gibt und natürlich diese etwas schiefe Verehrung von Verne als Anfang des Science Fiction-Genres. (Irgendwann wollte ich mal nachsehen, was Leuten wie Stanislaw Lem oder Ray Bradbury zu Verne eingefallen sein mag.)
Was nur sehr wenig existiert, soweit ich das bisher sehen kann, sind tiefergehende Untersuchungen zu Vernes Ansatz, aktuelle Naturwissenschaft und Technologie in seine Texte einzubauen, abgesehen von der Feststellung, dass das wohl aus seinem Vertrag mit dem Verleger Pierre-Jule Hetzel und _dessen_ genuinem Interesse an so einer Literatur herrührt, die bis dahin nicht wirklich existierte.
War dieser Plan politisch oder im Sinn von Volksbildung kulturell im Sinn von _kultivieren_ eines Grundverständnisses des modernen und soliden Wissens um die Realitäten der sich herausbildenden technischen Zivilisation ? Dabei wäre z.B. dieses Netzwerk aus Leuten wie Nadar, Hetzel, Jules Verne und dem grossen anarchistischen Geographen Elisée Reclus, der auch von Hetzel gefördert wurde ein lohnendes Thema, das genauer zu beleuchten.
In der frz. Sekundärliteratur gibt es wohl schon etwas dazu, i.A. unter der Spitzmarke Jules Verne als _vulgarisateur_ von _science_ etc. Für mich - nach etwa 1/3 der VCT - ist das auch der erste Eindruck, wie Verne auf den ihm als Literaten vertrauten Substraten (daher wohl auch die Neigung sich Geeignetes von anderen herauszunehmen) von romantischer Erzählung, realistischem Reisebericht, Abenteuerroman mit etwas Slapstickhumor unter Benutzung von (nationalen, professionellen) Klischees ein Textegewebe erzeugt, das Interesse an und Information zu den Realien der Welt und ein eher skeptisches, aber solides Vertrauen in Erkenntnisfähigkeit der rationalen Wissenschaften vermittelt.
Die Ausgabe der Bib. Pléiade merkt zu den Runen im Granitfelsen lapidar an:
'L'inscription sur un bloc de rocher semble reprendre un détail du récit de Pont-Jest, _La Tête de Mimer_'
Gemeint ist eine Erzählung von René de Pont-Jest (1829-1904) [https://fr.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_de_Pont-Jest], die so interessante Parallelen mit Jules Vernes 'Voyage au Centre de la Terre' (VCT) aufweist, dass Pont-Jest 1877 ihn und Vernes Verleger Hetzel wegen Plagiats verklagte.
Verne wies alle Anschuldigungen von sich und die Klage wurde abgewiesen, wohl weil Verne einen fähigen Anwalt hatte und Pont-Jest sich selber eher ungeschickt vertrat und völlig überzogene Ansprüche gelten machen wollte. Zu dieser Plagiatsaffäre kann man bei Volker Dehs, _Jules Verne: eine kritische Biographie_, Artemis & Winkler, Düsseldorf, Zürich 2005 nachlesen. Anscheinend waren Plagiatsvorwürfe in literarischen Frankreich der Zeit aber eine Art Gesellschaftsspiel aus Reklameabsicht und mit finanziellem Interesse.
Die Geschichte über den allwisssenden Kopf des Mimir [https://de.wikipedia.org/wiki/Mimir] kann man hier im frz. Original finden, Revue Contemporaine, Serie 2, Tome 35 (1863) Volume 70, pp.299-329 [https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k405828c/f298.item].
Parallelen zwischen _La Tete de Mimer_ (LTM) und VCT sind aber stark:
Protagonist - etwas verträumter junger Mann mit Interesse an Wissenschaften. Graüben (VCT) ermutigt eine Forschungsreise, dagegen Marguerite (LTM) als vernachlässigte Verlobte will den Helden abhalten, beide sehr blond & blauäugig - aber das ist ja Standardklischee für deutsches weibliches Personal. Heimatstadt ist Frankfurt a.M. (LTM) bzw. Hamburg (VCT) beide imt pittoresken Häusern und Verkauf alter Bücher. Runenpergament, das mit einem alten Buch von Erasmus (LTM) oder Saknussem (VCT) erworben wird, und dann von altem Gelehrten entziffert wird (Meister Wolfram - LTM) oder eben nicht (Professor Lidebrock - VCT) und das eine Reise in den Norden auf einen Berg auslöst. In beiden Texten spielt bei der Entzifferung die Nähe des Pergaments zu einem offenen Kamin/Feuer eine Rolle - das kommt aber ja aus E.A.Poes _Goldbug_. Es muss ein Berg bestiegen werden, "Nunsfjeld" in Norwegen (LTM) oder der Sneffels. Es gibt recht einsilbige Dienerschaft (Smith - LTM) oder lokale Führer (Hans). Oben auf dem Berg findet sich ein Granitfelsen mit Runen als Zeichen, dass man an der rechten Stelle ist. Dort muss nun eine komplizierte Ortung wie mit dem Schatten einer Sonnenuhr zu einem bestimmten Datum ausgeführt werden - natürlich entspricht das wieder Poes Schatzsuche im Goldbug. Allerdings spielt bei Pont-Jest zusammen mit der Mitternachstsonne jenseits des Polarkreises auch der Mond eine Rolle, der bei ihm auch noch im Westen aufgehen soll, was die Schatzsuche sicherlich etwas kompliziert. Das spezifische Datum in LTM ist die Sommertag-und-Nachtgleiche - ein heidnisches Fest! Auf dem Sneffels ist es vor dem 1. Juli.
Die leichte Abweichung bei dem Datum zwischen den beiden Geschichten ist für mich der stärkste Hinweis, dass sich Verne hier wirklich etwas herausgenommen hat bei Pont-Jest und seine Spuren leicht, ja nachlässig im Sinne von _plausible deniability_ verwischen wollte. Plagiat ist das aber vermutlich kaum, schon weil beide Autoren sich bei Poe zuvörderst bedienen.
Sonst ist die Geschichte bei Pont-Jest eine etwas überladene und langatmige romantische Erzählung - vermutlich inspiriert von Tiecks Runenberg und dem Freischütz. Die Hybris des Helden, der seine Marguerite ins frühe Grab bringt und die ewige Liebe zurückgewiesen hat weil er sich stattdessen mit altheidnischen Kräften Allwissenheit erwerben wollte, wird in einer eher lieblos heruntergeschriebenen kurzen Nachschrift, mit vorläufigen Martern, Tod & Verderben bis in alle Ewigkeit oder wenigstens zum jüngsten Gericht abgestraft. Die Geschichte und wie sie geschrieben ist, illustriert aber schon den literarischen Humus, in dem Verne seine Romane heranzüchtet.
Mmh, muuss natürlich _Sommersonnenwende_ heißen. Ich hätte da mal Mimirs Kopf als KI-Übersetzungshilfsding fragen sollen.
Die Plagiatsgeschichte findet sich auch im Anhang der Dehs-Übersetzung bei dtv. Interessant wäre es, ob Verne heute einen anderen Arbeitsansatz gewählt hötte und ob man mit heutigem Blick die ganze Thematik anders bewertet. Gibt es dazu eigentlich neuere Erkenntnisse? Sind Verne und sein Werk eigentlich überhaupt noch Präsent in der Forschung? Oder beschränkt sich das auf Menschen, die sich wie wir hier persönlich sehr angezogen fühlen?
Ich bin nun kein LitWissenschaftler, aber "Jules Verne" als Untersuchungsobjekt scheint hinreichend fest etabliert zu sein, wenn man scholar.google nach Literatur zu diesem "Jules Verne" + irgendetwas fragt, finden sich Aufätze, Dissertationen usf. zu sehr Vielem. Da JV überhaupt erfolgreichster/wirkungsmächtigster frz. Autor ist, ist das eher zu erwarten, nachdem er vorher lange wohl nur als indiskutabel und trivial angesehen war. Gegenwärtig (letzte 30 Jahre) scheint der Zustand der Diskussion sich eher auf Einzeluntersuchungen zu konzentrieren. Die grossen etwas gewagten Deutungen, die Verne überhaupt erst akzeptabel für die Literaturkritik erscheinen liessen - z.B. der sehr schöne Aufsatz von Butor aus den 1950er und die entsprechenden kurzen Bemerkungen/Appelle von Leiris, Serres und einigen wenigen anderen zur Bedeutung Vernes, liegen alle weit zurück. Die heterogene Natur seiner Werke plus die Liebhaber/Amateure, - und Volker Dehs wird wohl auch dazu zu zählen - implizieren aber, dass es gleichzeitig diese parallele Sekundärliteratur der Fans gibt und natürlich diese etwas schiefe Verehrung von Verne als Anfang des Science Fiction-Genres. (Irgendwann wollte ich mal nachsehen, was Leuten wie Stanislaw Lem oder Ray Bradbury zu Verne eingefallen sein mag.)
Was nur sehr wenig existiert, soweit ich das bisher sehen kann, sind tiefergehende Untersuchungen zu Vernes Ansatz, aktuelle Naturwissenschaft und Technologie in seine Texte einzubauen, abgesehen von der Feststellung, dass das wohl aus seinem Vertrag mit dem Verleger Pierre-Jule Hetzel und _dessen_ genuinem Interesse an so einer Literatur herrührt, die bis dahin nicht wirklich existierte.
War dieser Plan politisch oder im Sinn von Volksbildung kulturell im Sinn von _kultivieren_ eines Grundverständnisses des modernen und soliden Wissens um die Realitäten der sich herausbildenden technischen Zivilisation ? Dabei wäre z.B. dieses Netzwerk aus Leuten wie Nadar, Hetzel, Jules Verne und dem grossen anarchistischen Geographen Elisée Reclus, der auch von Hetzel gefördert wurde ein lohnendes Thema, das genauer zu beleuchten.
In der frz. Sekundärliteratur gibt es wohl schon etwas dazu, i.A. unter der Spitzmarke Jules Verne als _vulgarisateur_ von _science_ etc. Für mich - nach etwa 1/3 der VCT - ist das auch der erste Eindruck, wie Verne auf den ihm als Literaten vertrauten Substraten (daher wohl auch die Neigung sich Geeignetes von anderen herauszunehmen) von romantischer Erzählung, realistischem Reisebericht, Abenteuerroman mit etwas Slapstickhumor unter Benutzung von (nationalen, professionellen) Klischees ein Textegewebe erzeugt, das Interesse an und Information zu den Realien der Welt und ein eher skeptisches, aber solides Vertrauen in Erkenntnisfähigkeit der rationalen Wissenschaften vermittelt.